(Vor-)Leseerfahrungen im Deutschunterricht
„Bücher sind fliegende Teppiche ins Reich der Fantasie“ (James Daniel)
Für viele Menschen (nicht nur für Deutschlehrer) spielen Bücher eine wichtige Rolle. Durch sie erleben wir Abenteuer, versetzen uns in Figuren hinein oder identifizieren uns mit ihnen; durch Bücher und ihre Geschichten können wir dem Alltag für eine gewisse Zeit entfliehen. Wie wir uns Schauplätze, Figuren und Begegnungen dabei vorstellen, bleibt allein unserer Fantasie überlassen. Insofern ist es ein Ziel des Deutschunterrichts, die Freude an Literatur stets zu fördern.
Am 15. November 2019 war wieder bundesweiter Vorlesetag. Diesen nahm ich zum Anlass, um meine 5. Klasse in unserer Deutschstunde zu überraschen. Zwei Schülerinnen aus der Q12, die sich aufgrund ihres P-Seminars („Leseclub“) bei Frau Heimbeck mit dem Lesen von Büchern bestens auskannten, kamen an diesem Vormittag in die Klasse 5a und brachten einige bekannte Kinder- und Jugendbücher mit. Die Meinungen der Kinder, aus welchem literarischen Klassiker nun vorgelesen werden soll, gingen natürlich auseinander. Letztlich fand sich in dem Stapel von Büchern auf dem Lehrerpult ein nicht allzu dickes Taschenbuch der Reihe „Ich schenk dir eine Geschichte“. Das war nun kein Kinderbuchklassiker wie „Pippi Langstrumpf“, der Titel „Im Bann des Tornados“ (2016) klang für die meisten jedoch spannend und vielversprechend. Und so groß die Aufregung und Unruhe bei der Wahl des Buches innerhalb der Klasse auch war, so schnell kehrte absolute Ruhe ein, als die zwei Schülerinnen abwechselnd daraus vorlasen.
Selten ist es in einem Klassenzimmer an einem gewöhnlichen Schulvormittag so ruhig, dass man eine Stecknadel fallen hören könnte. Alle Schülerinnen und Schüler lauschen gebannt und sitzen ruhig auf ihren Stühlen. Als die Stunde zu Ende ist, sind alle enttäuscht und wollen natürlich wissen, wie es weitergeht. So kam es, dass ich mich darauf einließ, der Klasse einmal in der Woche selbst vorzulesen. Geeignet dafür erschien uns die Freitagsstunde vor der Pause oder die Doppelstunde Deutsch am Donnerstag. Selbstverständlich konnte in den folgenden Wochen und Monaten nie eine ganze Schulstunde zum Vorlesen geopfert werden, denn der Unterrichtsstoff sollte deswegen nicht zu kurz kommen, aber die letzten 10 bis 15 Minuten. Bereits am Mittwoch wurde ich nun schon immer daran erinnert, „unser Buch“ bloß nicht zu vergessen. Erstaunlich war teilweise auch, wie schnell und unkompliziert die Hausaufgabenbesprechung am Anfang der Stunde von Statten gehen kann, wenn die Aussicht auf unsere wöchentliche Vorlese-Einheit bestand. Bis zu den Faschingsferien haben wir auf diese Weise zwei Bände durchgelesen. Der zweite Band „Ich schenk dir eine Geschichte: Der Wald der Abenteurer“ (2013) erinnerte uns teilweise an unseren Abenteuernachmittag im Wald, als wir im Oktober gemeinsam in der Jugendherberge waren. Die erste Lektüre konnten wir noch gut mit unseren Erfahrungen bei der Erlebniserzählung verknüpfen und uns immer wieder Tricks abschauen, wie man Spannung aufbaut. Die Schülerinnen und Schüler erweitern dadurch aber auch ihre Ausdrucksfähigkeit und ihren Wortschatz. Satzstrukturen, mit denen man auch durch das Vorlesen konfrontiert wird, können dadurch gefestigt werden, sofern gut und richtig betont vorgelesen wird. Auch das können Schüler lernen, indem Sie hören, wie ihre Lehrerin bzw. ihr Lehrer Geschichten vorliest und dabei durch die Stimmführung, Lautstärke und das Lesetempo bestimmte Stimmungen transportiert. Gerade in der Unterstufe haben manche Kinder dabei noch Schwierigkeiten, vor allem wenn sie laut vor der Klasse vorlesen sollen.
Auch wenn es nicht ursprünglich so geplant war, so habe auch ich das Vorlesen jede Woche sehr genossen. Für einen Lehrer ist es ein gutes Gefühl, wenn die Klasse ruhig vor einem sitzt und sich auf jedes Wort konzentriert, das man sagt bzw. vorliest. Wenn man Schüler auf diese Weise zum Lesen motivieren und die Freude an Büchern und Geschichten wecken kann, dann sollte das Vorlesen unbedingt wichtiger Teil des Deutschunterrichts in verschiedenen Jahrgangsstufen sein. Die Zeit sollte man sich ab und zu nehmen, um Literatur beständig in den Schulalltag zu integrieren. So wie das Lesen am Abend vor dem Schlafengehen ein Ritual sein kann, so kann auch das Vorlesen im Unterricht zum wöchentlichen Ritual werden.
Eigentlich mag (fast) jeder Mensch es gerne, wenn ihm etwas vorgelesen wird. Das erinnert vielleicht an die Zeit, als man selbst klein war und die Eltern abends vor dem Einschlafen etwas vorgelesen haben. Wichtig war dabei meist gar nicht unbedingt der Inhalt, sondern das Gefühl von Zuwendung, Entspannung und Geborgenheit. Auch das kann für den Unterricht nur förderlich sein. Nach einer Grammatik-Einheit, mit der so mancher Schüler zu kämpfen hat und die die Beliebtheit des Deutschunterrichts nicht unbedingt steigert, kann Literatur die Gemüter wieder besänftigen und positive Gefühle hervorrufen. Zusammenfassen lässt sich das in einem Zitat von Voltaire:
„Lesen stärkt die Seele.“
Die Schüler/-innen der Klasse 5a haben ihre Erfahrungen mit dem wöchentlichen Vorlesen eigens formuliert. Ich finde, diese Aussagen sprechen für sich.
Evelyn Coppola
„In der ganzen Klasse war es ruhig und jeder hörte aufmerksam zu. Besonders schön fand ich, dass man mit den Gedanken bei sich sein konnte."
„Ich mag vorgelesen bekommen so gerne, weil man sich entspannen kann. Außerdem ist es gemütlich.“
„Ich finde das Vorlesen sehr schön, weil es wie eine kleine Belohnung ist. Außerdem ist es dann in der Klasse sehr ruhig und gemütlich. Man kann sich entspannen, malen und der Geschichte lauschen.“
„Beim Vorlesen des Buches konnte man sich entspannen. Einfach nur lauschen und sich für kurze Zeit erholen können. Man kann sich vom Schulstress für kurze Zeit lösen.“
„Ich fand es ein tolles Gemeinschaftsgefühl, gemeinsam mit der Klasse eine Abenteuergeschichte zu erleben.
Auf die Art konnte man den Schulalltag richtig genießen und in die Geschichte eintauchen .... Wir durften uns auf den Tisch legen und eine Fantasiereise machen.“
„Man kann sich danach wieder besser konzentrieren. Außerdem macht vor dem Vorlesen jeder besser mit, da den Schüler eine "Belohnung (das Vorlesen)" erwartet.“
„Ich finde das Vorlesen cool, weil es mich entspannt. Außerdem werden die Bücher immer sehr spannend vorgelesen.“
„Ich finde es sehr gut, dass uns öfters vorlesen wurde, denn es ist gut zum Entspannen und vor allem sind die Betonungen unserer Lehrerin großartig.“
„Mir gefällt das Vorlesen so gut, weil es sehr entspannend ist und man einen freien Kopf kriegen kann. Blöd fand ich, dass dann andere Kinder vorlesen wollten. Die lesen nicht so deutlich und laut. Da konnte ich nicht so gut zuhören wie bei meiner Lehrerin.“
„Wir mögen die Geschichten, weil wir uns nach dem ganzen Stoff entspannen können. Es ist eine willkommene Abwechslung zum Unterricht.
Es ist manchmal spannend und jeder kann sich seine Vorstellungen dazu machen. Noch eine gute Sache ist, dass es immer ruhig ist, weil alle gut zuhören.“